Fernab von Filmindustrie und Studioproduktion schuf der avantgardistische Filmemacher Carl Theodor Dreyer mit „Vampyr – Der Traum des Allan Grey“, einen experimentellen Horrorfilm, der der Logik eines Traums folgt und auf unkonventionelle Weise Themen wie Bewusstseinserweiterung, Halluzination und Todeserfahrung behandelt. Mit geringem Budget ausschließlich an Originalschauplätzen gedreht, erreicht Dreyer, auch durch teilweise extreme Stilisierung, eine erhabene irreal-illusionistische Atmosphäre.
Wie der Held aus einem Keaton-Film, betritt der naiv wirkende Beau, Allan Grey, scheinbar aus dem Nichts, eine Welt die er nicht versteht. Er kehrt in einen Gasthof ein und trifft dort auf seltsame Gestalten und Erscheinungen. Ein Buch über Vampirismus scheint Erklärungen für die verwirrenden Ereignisse zu geben. Grey stellt weitere Nachforschungen an und findet heraus warum die junge Tochter des Barons darbend auf den Tod wartet. Erst wenn er die Quelle des Unheils zerstört, kann die junge Frau gerettet werden. In einem Traum erkennt Grey die Lösung des Problems…
So simpel wie die in kurzen Sätzen rekapitulierte Handlung hier wirkt, ist sie in „Vampyr“ bei weitem nicht. Dies liegt vor allem an der extrem sprunghaften und unsteten Erzählweise, die vermeintlich keiner Logik folgt. Dreyer führt schlafwandlerisch durch seinen Film und erschafft dadurch -ähnlich wie Buñuel/Dalí mit „Ein andalusischer Hund“- die surreal-improvisierte Aura eines Traums. Im Gegensatz zur lockeren, scheinbar zufälligen Aneinanderreihung von Ereignissen in „Ein andalusischer Hund“, wirkt die umständliche Erzählstruktur von „Vampyr“ dabei jedoch eher sperrig und inkonsequent.
Auf visueller Ebene besticht „Vampyr“ dagegen durch unkonventionell-experimentelle Kameraführung und ausgefeilten Bildaufbau. Die oft verwinkelten Perspektiven, die gewagten (teilweise bis zu 360°-)Schwenks und die technisch einwandfreien Verfolgungen tragen dazu bei, die Gegenwärtigkeit eines jeden Augenblicks –fernab von Bewusstseins- und Handlungslogik- nochmals zu betonen. So entsteht ein atmosphärisch dichtes, traumähnliches Gebilde, das durch den zusätzlichen Verzicht auf plausible Erklärungen der Ereignisse noch an Mystik gewinnt. Ob es sich bei den geschilderten Vorkommnissen wirklich um Fälle von Vampirismus handelt, oder ob sich Grey alles erträumt, lässt Dreyer völlig offen. Lediglich der Ansatz einer Lösung ist erkennbar.
Anders als in den etwa zur gleichen Zeit entstandenen Universal Horror-Ikonen „Dracula“ (1931), „Frankenstein“ (1931), „Die Mumie“ (1932), „Der Unsichtbare“ (1933) o.a. ist für Dreyer -neben der Plausibilität der Handlung- auch die Faszination des Schreckens nicht im Geringsten relevant. So vermeidet er in „Vampyr“ explizit jegliche Ausstellung des Grauens – kein Akt der Gewalt, keine kreischenden Frauen, keine Schockelemente… Was Dreyer dem Zuschauer bietet ist reiner psychologischer Horror.
Eine diesbezüglich beeindruckende Sequenz, ist die, in der der träumende Grey seine eigene Beerdigung miterlebt: Mit weit aufgerissenen Augen blickt er durch ein kleines Fenster aus seinem Sarg. Aus Greys Perspektive, der Perspektive eines Toten, erleben wir den Weg zum Friedhof – Bäume, Häuser und das Kirchengebäude ziehen unaufhaltsam vorüber. Eine beängstigende klaustrophobisch-verzweifelte Spannung baut sich auf – der Albtraum des eigenen Todes.
Dabei gilt zu beachten, dass Dreyer stets eine Identifikation mit seiner Hauptfigur vermeidet. Zwar sieht der Zuschauer die Ereignisse des Films faktisch mit den Augen Greys, doch scheint ständig eine nebulöse Trennscheibe zwischen Kamera und Protagonisten zu liegen. Eine merkwürdige Distanz ist spürbar. Oft wirkt es als löse sich Grey förmlich in den impressionistischen Landschaften auf. Meist ist es eine Überraschung, dass er überhaupt wieder auftaucht…
Trotz der vielen subtilen psychologisch-psychoanalytischen Ansätze, verfällt Dreyer auch immer wieder auf einfache filmische Taschenspielertricks, die an frühe Filme der Lumières und Méliès erinnern; so wenn Schatten scheinbar eigenständig über die Wand gleiten, oder rückwärtsabgespielte Aufnahmen Verwunderung erregen sollen. An diesen Stellen wirkt „Vampyr“ oft unfreiwillig komisch. Auch die miserable Tonqualität des Films, mit teilweise kaum zu verstehenden, sich überspitzt artikulierenden (Laien-)Darstellern und dem unbeholfenen Einsatz von Musik und Geräuschen, verweist immer wieder auf das geringe Budgets des Films; aber auch auf die zeitliche und stilistische Nähe zum Stummfilm. Hinzu kommt, dass „Vampyr“, ähnlich wie „Nosferatu“ (1922) oder „Das Cabinett des Dr. Caligari“ (1920), seine Plot-inhärente Glaubwürdigkeit aus einem Buch generiert. Die Folge: ungewöhnlich lange Textpassagen, die den Fluss der Handlung abermals unterbrechen… Dennoch verstärken letztlich auch diese vermeintlichen Unzulänglichkeiten die oben erwähnte, bewusste Distanzierung, um dem Zuschauer das unbestimmte Gefühl eines Traums zu vermitteln.
Dies alles macht „Vampyr“ –stets mehr Traum als Film- zu einem außergewöhnlichen Vorreiter auf dem Gebiet des psychologischen Horrors. Auf unvergleichliche Weise entsteht durch improvisierte Perfektion ein bildgewaltiger, surreal-verstörender Film, der die Begrenztheit des Verstandes ausklammert, um unbewussten Schrecken zu erzeugen. Ein in jeder Hinsicht bewundernswertes Kleinod der Filmgeschichte.
_______________
Vampyr – Der Traum des Allan Grey (D / F / 1932)
R: Dreyer / K: Maté / D: Dreyer (nach Le Fanu)