Archiv für März 2011

30
Mär
11

Aktion Deutscher Film

Ziemlich genau ein halbes Jahr schreibt der olle Unoculus jetzt am Kintopp. Doch schon ein Blick auf die Liste der eingestellten Beiträge zeigt, dass bisher verhältnismäßig wenig deutschsprachige Filme besprochen wurden. Um genau zu sein nur ein Einziger – Olympia (D / 1938)… Lediglich ein Beitrag von 25!

UND bei vielen Film-Blog-Kollegen sieht es in Bezug auf den deutschsprachigen Film ähnlich düster aus. Woran mag das liegen? Gibt es zu wenig qualitativ hochwertige Produktionen aus deutschen Landen? Sind wir zu sehr an die „heimische Kost“ gewöhnt? Kann sich der deutschsprachige Film einfach nicht gegen die internationale Konkurrenz durchsetzen? Wohl eher unzureichende Erklärungen…

Wie dem auch sei; es ist an der Zeit entgegenzusteuern und dem deutschen Film mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Und genau aus diesem Grund möchte auch der „Kintopp“ die tolle Aktion des intergalaktischen Affenmanns mit Begeisterung unterstützen –

Die „Aktion Deutscher Film“.

Jeder Interessierte Blogger sei deshalb aufgefordert sich an dieser militärisch-präzis konzipierten Unternehmung zu beteiligen. Je mehr Input, Aufmerksamkeit und Beschäftigung mit dem Thema deutscher Film, desto besser. Die gemeinschaftliche Konzentration verschiedener Filmblogs und Bloggerlinge, stellt ein wirklich zu begrüßendes Experiment dar, um in gemeinsamer Anstrengung intensiv über den oftmals sträflich vernachlässigten deutschsprachigen Film zu recherchieren und zu diskutieren… damit so deprimierende Quoten wie bei mir, in Zukunft verhindert werden.

Kurzum: Ich freue mich darauf im Verlauf des Jahres Vergessenes wieder zu entdecken, Verdrängtem eine neue Chance zu geben und vor allem, noch nicht Bekanntes zu erschließen.

Hier nun meine favorisierten Zehn UND Zehn weitere großartige deutsche Filme, die sich wirklich lohnen. Die Reihenfolge der aufgelisteten Filme spielt keine bestimmte Rolle.

 

Karbid und Sauerampfer“ (DDR / 1963)

Ein augenzwinkerndes Zeitdokument mit vielen Seitenhieben auf politisch-militaristisch-logistische Unzulänglichkeiten und ein seltenes Beispiel von deutschem „savoir vivre“.

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Auch Zwerge haben klein angefangen“ (D / 1970)

Ein pervers-anarchistischer Aufstand gegen den guten Geschmack – grotesk, blasphemisch, surreal. Dieser Film ist wahrlich unvergesslich.

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Das Cabinet des Dr. Caligari“ (D / 1920)

DER Klassiker unter den Klassikern. Ein Film der bis heute funktioniert und bis heute nachwirkt. „Du mußt Caligari werden“.

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Jonas“ (D / 1957)

Begeisternd unkonventionell. Ein Film über einen Außenseiter, der gleichzeitig ein Jedermann ist. Definitiv ein sträflich vernachlässigtes Meisterwerk. Empfohlen sei an dieser Stelle die gelungene Besprechung auf Whoknows.

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M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (D / 1930)

Schon bei meinen „Top 10 überhaupt“ dabei, darf „M“ natürlich auch hier nicht fehlen. Die Definition eines zeitlosen Klassikers.

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Piratensender Powerplay“ (D / 1982)

Natürlich! Auch DAS ist deutscher Film. Mit dem Holzhammer gestrickt, stets flach aber doch liebenswert. „Piratensender Powerplay“ steht dabei exemplarisch für die frühen Otto-Filme, für Karl Dalls Eskapaden am Kilimandscharo und auf Ibiza, für Hape Kerkelings unterschätzte Komödien und natürlich für das gesamte Supernasen-Oeuvre… Filme die auch nach der 20. „Sichtung“ wertvoller werden.

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Olympia-Fest der Schönheit“ (D / 1938)

Formale Perfektion mit fragwürdiger (aber niemals flach-eindeutiger) Aussage. Dennoch definitiv ein visuelles Meisterwerk.

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Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (D / 1922)

Der poetische Horrorfilm fasziniert bis zum heutigen Tage. Einige, teilweise nebensächliche, Einstellungen verfolgen mich bis heute. Magier Murnau wusste einfach wie es geht.

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Zur Sache, Schätzchen“ (D / 1968)

Sozusagen eine Herzensangelegenheit. Ein ziemlich takt- und ruheloser Film, der sicherlich streckenweise etwas angestaubt wirkt, aber dennoch in einigen Sequenzen Auf- und Abbruchstimmung vermittelt.

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Das kalte Herz“ (DDR / 1950)

Das altmodische, scheinbar träg dahinfließende Märchen, entführt einen fast unmerklich in eine andere Welt. Die fantastisch-düstere Kraft des Films ist dabei jederzeit spürbar.

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Und hier noch zehn Filme die es knapp nicht in die Top 10 geschafft haben, aber dennoch nicht minder sehenswert sind.

 

Abschied“ (D / 1930) – Die in nur 10 Tagen abgedrehte „Billigproduktion“ macht aus der Not eine Tugend. Sozusagen eine Art Nachfolgefilm des ebenfalls großartig reduktionistischen „Menschen am Sonntag“ (D / 1930).

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Der Schatz“ (D / 1923) – Die überraschend surrealen Anfänge des „Pabstes“ der Neuen Sachlichkeit. Kleine Geschichte, große Wirkung.

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Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ (D / 1932) – Brecht, Dudow, Eisler und der großartige Ernst Busch schufen gemeinsam ein einmaliges Film-Experiment.

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Wunschkonzert“ (D / 1940) – Teile dieses Films beeindrucken bis heute, andere Teile erschrecken in ihrer tendenziösen Machart. Dennoch definitiv einen Blick wert.

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Angst essen Seele auf“ (D / 1974) – Rührende Menschlichkeit vs. gesellschaftliche Konventionen. Fassbinder vermittelt hoffnungsvolle Traurigkeit…

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Der letzte Mann“ (D / 1924) – Visuell ein nahezu perfekter Film, in dem die Kamera die Geschichte erzählt. Vielleicht Murnaus Bester…

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Doppelpack“ (D / 2000) – Oft liebenswert, manchmal poetisch, häufig nichtig und meistens wahr. Ein definitiv unterschätzter Film über das Leben…

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Die Nibelungen“ (D / 1922/24) – Faszinierend und verstörend: Monumentales Geklotze und triviale Kleckerei. Muss man gesehen haben.

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Jakob, der Lügner“ (DDR / 1975) – Mit wenig Mitteln viel erreicht. Zurückhaltend, unaufgeregt und ungemein bewegend.

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Der Student von Prag“ (D / 1913) – Natürlich darf der große Paul Wegener nicht fehlen. Ein ungemein reifer Film, der seiner Zeit weit voraus war.

28
Mär
11

Der Leichenverbrenner – Beängstigende Irritationen

Juraj Herz‘ 1969 entstandener bitterbös-satirischer Film „Der Leichenverbrenner“, beschäftigt sich auf subtile Weise mit dem Thema Holocaust; ohne dabei jedoch die Schrecken und Gräuel des Unfassbaren auf visueller Ebene zu imitieren. So stellt der -vollständig aus Sicht der Hauptfigur erzählte- Film, eine psychologische Bestandsaufnahme einer Epoche dar und wirkt dabei so verstörend, dass es beinahe weh tut…

Im Verlauf der Handlung lernt der Zuschauer die omnipräsente Hauptfigur Kopfrkingl kennen. Zu Beginn wirkt der Protagonist noch wie die Karikatur eines pedantischen, aber ungefährlichen Kleinbürgers, der mit seiner Bilderbuchfamilie im Prag des Jahres 1939 lebt. Sicher sein Beruf – Leichenverbrenner im städtischen Krematorium – ist etwas sonderbar, aber jemand muss es ja machen… Doch je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr bröckelt auch die kreuz-anständige Fassade. So wird der Zuschauer im Verlauf des Films Zeuge wie Kopfrkingl seine Frau betrügt, wie er pornographische Bilder sammelt oder wie er in einem seiner zahlreichen -von Nichtigkeiten geschwängerten- Monologe, fragwürdige Ansichten vertritt, die häufig im offenen Widerspruch zu seinen früheren Reden stehen. Ganz langsam, fast unmerklich wird auf diese Weise aus dem harmlosen Kleinbürger ein bedrohliches Ungeheuer, das die Relationen zwischen Einbildung, selbsteingeredetem Wahn und Realität vollständig verloren hat.

Das Erschreckende an dieser genüsslichen Demontage: Kopfrkingls Verhalten macht durch seine obskuren Erläuterungen stets Sinn oder ist zumindest nachvollziehbar. Er redet sich seine Aktionen schön; und sich ein, er sei im Recht. Ist er beispielsweise anfangs noch der festen Überzeugung ein echter Tscheche zu sein, wird ihm langsam klar, dass es durchaus Vorteile haben kann von „deutschem Blut“ abzustammen. Diese neue Erkenntnis vertritt er fortan mit aller Vehemenz. Er geht sogar soweit, seine jüdische Frau und seine Kinder zu töten… natürlich auf grotesk brutale Weise.

Denn: Kopfrkingl erledigt Alles mit enormer Leidenschaft und ohne Rücksicht auf Verluste oder Mitmenschen. Auf diese Weise charakterisiert er sich als selbstgefällig-egomanischer Opportunist. Auch seinen Beruf sieht der „Kremator“ als Dienst an der Menschheit. Er ist der Meinung durch Leichenverbrennung die Seelen der Toten zu befreien… für das glückliche Leben nach dem Tod! Da kommt doch das Angebot aus deutschen Konzentrationslagern wie gerufen. Denn hier kann Kopfrkingl noch effizienter arbeiten und noch mehr Seelen glücklich machen…

Schnell wird klar: „Der Leichenverbrenner“ ist ein aufschlussreiches Zerrbild, dass niemals versucht realistischen Bahnen zu folgen. Zu überzogen die Kameraeinstellungen, zu verwirrend die Schnitte, zu übertrieben der Plot. Doch obwohl Juraj Herz damit stets auf die extreme Künstlichkeit des Gezeigten verweist, fesselt der Film dennoch durch den rastlosen Schwung mit dem die Handlung vorangetrieben wird.

Diesbezüglich ist vor allem der Rhythmus des Films bemerkenswert. Alles wirkt von Beginn an fließend. Als wäre die Entwicklung der Hauptfigur von vornherein klar. Oftmals wechseln Sequenzen und Handlungsorte nur durch einen einzelnen Schnitt – ein Spiel mit der Wahrnehmung des Zuschauers findet statt. Dabei wirkt der Film stets gewitzt und enthusiastisch. Eine Art stilistische Wundertüte. Man bildet sich förmlich ein den Geist des kurzen Prager Frühlings spüren zu können.

Keine Frage. Filmisch ist die kafkaeske Satire jederzeit ungemein schlüssig und stringent. Fischaugenobjektiv, verwinkelte Kameraperspektiven, Detailaufnahmen und die unkonventionelle, springende Montage ergeben zusammen eine bemerkenswerte künstlerische Geschlossenheit; ein starker surrealer Touch ist spürbar. Dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) fühlt man sich beim Betrachten des Films oft auf sonderbare Weise unwohl. Es wird zu einer Tour de Force den immer abstoßender wirkenden Kopfrkingl bei seinen scheinbar harmlosen Eskapaden / Tiraden zu beobachten, weil der konsequente Einsatz filmischer Mittel die Trennlinien zwischen Realität, Fiktion und Meinung verwischt.

Kurzum: „Der Leichenverbrenner“ stellt eine beißende Generalabrechnung mit kleinbürgerlichem Duckmäusertum dar. Eben weil der Film die Wurzel des Unheils freilegt, ist er zudem eine erschreckend treffende Reflexion über Täterschaft und Verantwortlichkeit im Nationalsozialismus… Oder anders: Auf die häufig gestellte Frage, wie es in einer modernen, zivilisierten Gesellschaft zu ideologisch motivierten Massenmorden kommen konnte, gibt „Der Leichenverbrenner“ eine erstaunlich überzeugende Antwort…

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Spalovač mrtvol (ČSSR / 1969)

R: Herz / K: Milota / D: Fuks

13
Mär
11

Onibaba – Instinkt und Menschlichkeit

Kaneto Shindôs „Onibaba“ spielt im feudalen Japan. Zwei Frauen – Mutter und Ehefrau eines kämpfenden Samurai – halten sich in den Wirren eines langandauernden Krieges am Leben, in dem sie flüchtende Soldaten töten, um ihre Rüstungen und Waffen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Als Hachi, ein ehemaliger Nachbar, aus dem Krieg zurückkehrt, erfahren die Frauen, dass ihr Sohn-Ehemann gefallen ist. Die Beziehung zwischen ihnen beginnt sich zu verändern. Zudem entsteht eine sexuelle Spannung zwischen der jungen Witwe und dem Rückkehrer. Die Mutter versucht die sich anbahnende Beziehung mit allen Mitteln zu verhindern…

Trotz der relativ einfachen – vage auf einer buddhistischen Legende basierenden – Handlung bleiben alle Charaktere des Films stets undurchsichtig. Die Vermutung, die Mutter würde aus Andenken an ihren Sohn die Liaison zwischen Hachi und der Schwiegertochter unterbinden, erweist sich schnell als falsch, wenn Eifersüchteleien und unbefriedigte sexuelle Wünsche der Mutter deutlich werden. Sie fühlt sich ausgeschlossen. Ihre intrigante und boshafte Art scheint nur auf dem Wunsch zu beruhen nicht allein gelassen zu werden. Ein zutiefst menschliches Bedürfnis…

Obwohl die Figuren im Verlauf des Films scheinbar rein instinktiv ihre niederen Bedürfnisse befriedigen (Schlafen, Fressen, Ficken), ist „Onibaba“ dennoch eine detailliierte und intelligente Studie über menschliche Beziehungen: So weicht die perfekt funktionierende Symbiose zwischen Mutter und Tochter, unter der harten Führung der Älteren, langsam auf. Aus der dominanten Mutter wird die schwache, verzweifelnd-fordernde und letztlich Scheiternde, die durch ihr Versagen ein Stück ihrer Würde wiedergewinnt. Stets werden diese hierarchischen Schwankungen mustergültig durch Kameraperspektiven und Einstellungen paraphrasiert.

Denn so roh und brutal die Figuren im Film agieren, so unglaublich gefühlvoll und stilistisch einwandfrei ist die Kameraarbeit. Im wundervollen CinemaScope schafft Shindô mit seinem Kameramann Kiyomi Kuroda wirkungsmächtige Bilder, die Anmut vermitteln und dabei gleichzeitig verstörend unergründlich erscheinen. Zurückgenommene Dialoge und die Zentrierung auf visuelles Erzählen verstärken diesen Eindruck noch. So ist die sterile Perfektion der Bilder zu jedem Zeitpunkt bewundernswert. Die Lichtsetzung changiert dabei von künstlerisch-künstlichen expressionistischen Schwarz-Weiß-Kontrasten, bis hin zu realistisch-dokumentarischer Natürlichkeit des Lichts.

Mit einer faszinierenden Genauigkeit setzt Shindô immer wieder Zeitlupenaufnahmen ein, die ungemein befremdlich wirken und dennoch Sinn vermitteln. Generell variiert das Tempo des Films sehr stark. Langsam fließende Passagen, wechseln sich mit überstürzten und hektischen Momenten. Stille, Gewalt, Trägheit, Sex, Mord… Shindô beherrscht all diese Gefühlsparadigmen exzellent. Durch extreme Detailaufnahmen und schockierende Bildeinschübe wird darüber hinaus ständig eine überzeugend beklemmende Stimmung aufrechterhalten, die zusammen mit den Schock-suchenden Toneffekten zur atmosphärisch dichten Erzählung beiträgt.

Auch das Setting ist diesbezüglich enorm wichtig. Die Handlung spielt ausschließlich in einem dichten Feld mannshoher, schilfähnlicher Pflanzen. Das Feld bietet den Protagonisten einerseits Schutz (Verstecken, Wohnen, Überleben), auf der anderen Seite entsteht durch die verwirrende Undurchsichtigkeit aber auch eine fast greifbare klaustrophobische Spannung. Einzig ein mysteriöses schwarzes Loch im Boden, scheint als Gegenpol zu den endlos wirkenden Feldern zu dienen. Auf der einen Seite die endlosen Weiten des Feldes, auf der anderen Seite das Nichts (sozusagen der Eingang zu einer anderen Welt), das stetig als Bedrohung aber auch als Versprechen einer möglichen Erlösung eine wichtige Rolle im Leben der Charaktere spielt.

An dieser Stelle sei kurz Shindôs, vier Jahre später entstandener Film, „Kuroneko“ erwähnt, der einen ähnlichen Plot aufweist aber ganz anders funktioniert. Auch hier töten Mutter und Schwiegertochter gemeinsam Samurai (diesmal aus Rache), bis der Sohn-Ehemann von den Herrschenden ausgesendet wird um die beiden Frauen zu töten. Es entspinnt sich ein fesselndes Psychospiel. Shindô setzt den Film von vornherein in einen metaphysisch-schaurigen Zusammenhang, da die weiblichen Protagonistinnen Geister – also bereits tot – sind… Bemerkenswert ist die neutrale, fast schon verstörend objektive Kameraarbeit. Alles in allem wirkt „Kuroneko“ aber etwas unzusammenhängend und gewollt; und kommt deswegen, trotz vieler sehenswerter Momente, qualitativ nicht an „Onibaba“ heran.

Der bekennende Sozialist Shindô zeigt in „Onibaba“ die Wertlosigkeit eines einzelnen Lebens auf. Deutet man den Film als Gesellschaftsparabel, wirken die Triebhaftigkeit der Charaktere, die zügellose Sexualität und die Gier nach materiellen Werten wie eine latente aber stets mitschwingende Kapitalismuskritik. Überhaupt stellt „Onibaba“ durch die vielfältigen Interpretationsangebote seiner minimalistischen und gleichzeitig vielsagenden Elemente ein psychoanalytisch-metaphorisches Fass ohne Boden dar. Nur einige Beispiele: die undurchsichtigen Felder, das schwarze Loch, verschiedene Phallussymbole, sexuelle Spannungen zwischen Mutter und Tochter, Selbstverletzungen, Exorzismus, Traumsequenzen, Tag-Nacht Dichotomien, Kastrationsmetaphern (Frauen töten Männer und nehmen ihnen ihre Waffen), die Angst verlassen zu werden usw. usf. Kurzum: „Onibaba“ bietet reichlich Raum für Interpretationen…

Dessen ungeachtet gelingt Kaneto Shindô mit seinem minimalistischen, aber atmosphärisch dichten Film ein „realistisches Märchen“, das sich nicht mit moralisch-ethischen Implikationen befasst, sondern mit den Instinkten und Begierden des Menschen. Shindô subtrahiert faktisch die Romantik aus der filmischen Erzählung: aus Liebe wird Sex, aus Freundschaft Symbiose und aus religiösen Implikationen pures Mittel zum Zweck… Dennoch zeichnet Shindô nur bedingt ein negatives Menschenbild; stellt doch letztlich gerade die entschlossene Anpassung an widrige Umstände die Stärke der Kreatur Mensch dar. Wenn die Verhältnisse es verlangen wird das Individuum zur Bestie. Die ungeschönte Illustration menschlichen Daseins…

 

 

 

 

 

 

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Onibaba (JAP / 1964)

R: Shindô / K: Kuroda / D: Shindô

Eine erstklassig bebilderte, lebendige Besprechung des Films findet sich übrigens auch unter: http://www.japankino.de/2010/onibaba/

07
Mär
11

Tatis Playtime – Gescheiterte Demokratisierung?

„Playtime“, der wohl wichtigste Film Tatis, kann als eine Art Kulminationspunkt in der Karriere des unkonventionellen Filmemachers gelten. Mit den Mitteln eines Blockbusters realisierte Tati einen avantgardistischen Experimentalfilm und brachte so seine unverfälschte Vision filmischer Ausdrucksweise auf die Leinwand.

Für „Playtime“ schuf Tati am südöstlichen Rand von Paris eine gigantische Filmstadt. Eine surreale Utopie der französischen Hauptstadt, mit einem Aufwand der ebenfalls surreal wirkt. Tativille wurde aus 50.000 Kubikmetern Beton, 4 Quadratkilometern Kunststoff und 1200 Quadratmetern Glas, auf einer Fläche von 15.000 Quadratmetern erschaffen und war eine kleine Stadt für sich. Es gab gepflasterte Straßen, funktionierende Ampelanlagen und unzählige Neonreklamen. Den Strom dafür produzierten zwei Elektrizitätswerke, die eine 15.000-Einwohner-Stadt hätten versorgen können… Durch Tativille wurde Filmarchitektur ans Limit geführt.

Im Kontrast zur überwältigenden Ausstattung, ist die Handlung von „Playtime“ – selbst für einen Tati-Film – sehr dünn. Im Grunde genommen lassen sich lediglich Bruchstücke einer Erzählung erkennen: der Film begleitet eine Gruppe amerikanischer Touristen, einen Tag lang durch Paris. Auch Monsieur Hulot ist in der Stadt; er muss einen Mann namens Giffard treffen – der Grund für dieses Treffen wird an keiner Stelle des Films erwähnt. Durch verschiedene Zwischen- und Zufälle finden beide jedoch nicht zusammen…

Die „Handlung“ des Films scheint nie auf ein Ziel hinauszulaufen, sondern wirkt eher wie die Aneinanderreihung verschiedener Episoden (Flughafen, Bürohaus, Industrieausstellung, Privatwohnung, ‚Drugstore’, Nachtclub, Kaufhaus und Rückreise zum Flughafen). Das ruhige Montagetempo des Films verstärkt diesen Eindruck noch. Tati nimmt sich Zeit und breitet die einzelnen Szenarien, ohne Rücksicht auf dramaturgische Gepflogenheiten, ganz behutsam aus.

Zudem sind die einzelnen Einstellungen in „Playtime“, wie in allen Filmen Tatis, relativ lang und meist aus weiter Entfernung aufgenommen (meist benutzt Tati die Totale), so dass der Zuschauer die Möglichkeit bekommt, seinen Blick schweifen zu lassen. Diese Methode wird noch durch das 70-mm–Format des Films unterstützt, wodurch eine enorme Raumtiefe entsteht.

Auf diese Weise laufen in vielen Einstellungen des Films Unmengen von kleinen Handlungen gleichzeitig ab. Dabei ist das Bild meist in Vorder-, Mittel-, und Hintergrund gestaffelt. Auf jeder Ebene geschehen unterschiedliche Dinge, so dass sich der Zuschauer stets aussuchen kann (und muss), welchem Teil des Bildes er seine Aufmerksamkeit schenkt. Der Betrachter hat somit die Möglichkeit, seinen ganz eigenen Film zu schauen. „Normalerweise lachen die Leute in einer Komödie zur gleichen Zeit über die gleichen Dinge. In ‘Playtime‘ dagegen lacht man zu verschiedenen Zeiten über die unterschiedlichsten Dinge“ (Maddock).

Tati untergräbt gängige Kinokonventionen, indem er den Blick des Zuschauers nicht durch Kameraeinstellungen, Schnitt und/oder Großaufnahmen „lenkt“. Er verwendet ein „demokratisches“ Prinzip, das jedem Zuschauer die Möglichkeit bietet, selbst zu entscheiden, welchen Handlungen im Bild er folgen möchte.

Eine weitere Maßnahme zur Demokratisierung des Komischen ist das inflationäre Auftauchen verschiedener Hulots in „Playtime“. Bevor der richtige Hulot im Film erscheint, spielt Tati mit den Erwartungen des Publikums: Er zeigt eine Figur, die wie Hulot aus „Mon oncle“ gekleidet ist. Eine Frau am Flughafen winkt ihm zu, doch als sie ihn anspricht, merkt sie, dass sie ihn (gewissermaßen wie der Zuschauer) verwechselt hat.

Indem er immer wieder „falsche“ Hulots auftauchen lässt, stellt Tati den Status des komischen Subjekts in Frage. Die Einzigartigkeit, die einen komischen Archetypus in der Filmgeschichte auszeichnete, wird somit negiert. Sorgt Hulot in „Les vacances de M. Hulot“ noch selbst für einen Großteil der Gags, so sind in „Playtime“ andere für die Komik verantwortlich. Tati zeigt, dass seine Welt auch ohne komisches Subjekt funktioniert und schon an sich komisch ist. Es entstehen Freiräume für die Imagination…

Kurzum: Weder Handlung, noch Filmbild oder Figuren bieten sich in „Playtime“ für eine Zentrierung an. Tati verzichtet also fast vollständig auf die gewohnten Mittel der Zuschauerführung und kommt somit der tatsächlichen Realität des Sehens sehr nah. Er transformiert den (vermeintlich) passiven Zuschauer zum aktiven Entdecker. Somit findet der Film also nicht unbedingt auf der Leinwand statt, sondern eher in den Köpfen der Zuschauer, die mit den einzelnen Eindrücken, die der Film vermittelt, spielen können… „Playtime“ eben.

 

Nachtrag:

„Playtime“ stellte ein kommerzielles Desaster dar und ruinierte Jacques Tati vollständig.

Der Film widersprach eindeutig dem Publikumsgeschmack; er war zu lang, schwierig und unzusammenhängend. Auch Leute, die ein weiteres Abenteuer von Monsieur Hulot sehen wollten, wurden enttäuscht, da die vermeintliche Hauptfigur oft in der Kulisse unterging. Der Film unterlief gängige Kinokonventionen und wirkte eher verstörend auf das zeitgenössische Publikum.

Die Tatsache, dass die wenigsten Kinos in Europa mit 70-mm-Vorführtechnik ausgestattet waren, mag ein weiterer Grund für den kommerziellen Misserfolg des Films gewesen sein. Hier setzt sich die Kompromisslosigkeit dieses Werks fort. Tati musste einfach wissen, dass der enorme finanzielle und technische Aufwand, verbunden mit der gängigen Vorführpraxis und dem vorherrschenden Publikumsgeschmack, einen Fehlschlag nach sich ziehen würde. Trotzdem lenkte er in keiner Weise ein und macht „Playtime“ dadurch zu einem künstlerischen Manifest, das in seiner radikalen Ausführung einmalig in der Geschichte des Films ist.

Tati verlor durch „Playtime“ sein Vermögen, sein Zuhause, seine Produktionsfirma, die Rechte an seinen Filmen und seine künstlerische Freiheit.

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Play Time (F / 1967)

R: Tati / K: Badal / D: Tati




Unter den Blinden…

Kein Anspruch auf Vollständigkeit. Kein Anspruch auf Richtigkeit. Pure Subjektivität eines Einäugigen...

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