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Antonionis China

Maos China zur Zeit der Kulturrevolution: Nach langen Verhandlungen erhält der italienische Filmemacher Michelangelo Antonioni vom Regime die Erlaubnis, für eine kurze Zeit ins streng abgeschottete Land zu reisen, um einen Dokumentarfilm über die Umbrüche und Lebensverhältnisse im Riesenreich zu drehen. Selbstverständlich unter strikten Auflagen, mit einer ständigen Reisebegleitung und auf vorgeplanten Wegen – von denen sich Antonioni natürlich so oft wie möglich entfernte. Das chinesische Regime erhoffte sich durch den Film eine Art weltweiten Propagandaeffekt und den Beweis für die Überlegenheit des Systems; doch waren Maos Schergen sehr enttäuscht über das Ergebnis…

Antonioni wusste, dass es ausgeschlossen ist ein kulturell, ethnologisch und historisch so bedeutsames Land wie China in einem Dokumentarfilm adäquat zu repräsentieren. Sich dessen bewusst scheint es als filme er einfach alles was ihn vor die Linse kommt. Mit dem Blick eines Entdeckers sammelt der moderne Marco Polo auf diese Weise Momentaufnahmen, Eindrücke und Artefakte des chinesischen Alltags: Kindererziehung, Fabrikarbeit, Schulalltag, Krankenhausarbeit, Verkehr, Wohnen… Es wirkt förmlich als sauge sich die Kamera mit Informationen voll, um auf diese Weise fantastische Einblicke in eine fremde Welt zu gewähren.

Ohne zeitliche Sprünge oder nachgedrehte Aufnahmen rekonstruiert Antonioni ganz unaufgeregt seine Reise durch das Reich der Mitte. Dabei führt ein stets unbeteiligt wirkender, merklich um Neutralität bemühter, Kommentar in die jeweiligen Sequenzen des Films ein; und lässt anschließend die Bilder für sich sprechen. So sind weite Teile des Films faktisch nur mit Originalton unterlegt, was eine neutrale, fast wissenschaftliche Perspektive vermittelt, die wiederum den Assoziationen und Interpretationsansätzen der Zuschauer freie Bahn lässt.

Dabei ist auffällig, dass Antonioni sich sehr für Details interessiert. Mit Hilfe von Teleobjektiv und Kamerazoom – Antonionis typischen Stilmitteln – geht er so nah heran, dass oft das gesamte Bild von einem einzelnen Gesicht ausgefüllt ist – als gelinge es Antonioni dadurch hinter die Fassade der scheinbar unnahbaren chinesischen Bevölkerung zu blicken. Auf diese Weise werden Gesichter zu Landschaften… Oft scheint sich Antonioni förmlich in der Vielzahl der unterschiedlichen Physiognomien zu verlieren. An manchen Stellen drängt sich dadurch das Gefühl auf, dass es sich um eine Art zoologischen Blick handeln könnte… doch ist es etwas anderes – uneingeschränkte Bewunderung, Respekt und Liebe zu den gefilmten Personen.

Dazu gehört auch, dass Antonioni niemals die Kamera versteckt oder gar heimlich filmt. Stets wird der Zuschauer visuell – durch offensichtliche Kamerablicke der Gefilmten – und auditiv – durch die die Drehumstände rekapitulierenden Kommentare – auf den Entstehungsprozess des Films hingewiesen. Somit bleibt die Kamera immer gegenwärtig; wodurch der dokumentarische Charakter des Films nochmals gesteigert wird. Egal ob verwackelt, unscharf oder offensichtlich durch die chinesische Propaganda gestellt; jedes Bild ist es wert in dem Film aufzutauchen. Antonioni versucht einfach so viele Eindrücke wie möglich zu vermitteln – alles ist interessant, aufschlussreich und auf sonderbar naive Art authentisch.

Dabei ist es bezeichnend, dass vor allem die Einstellungen, die die chinesische Regierung offensichtlich für den europäischen Filmemacher inszenieren ließ am aussagekräftigsten sind. Kinder, die wie kleine Roboter mit eingefrorenem Lächeln Revolutionslieder singen, militärisch präzis durchgeführte Wettkämpfe an Schulen, zum Ernteeinsatz marschierende Studenten usf. Oft decken gerade diese Einstellungen mehr auf als die von den Begleitern unbeobachtet gefilmten Momente – eben das Bild das die chinesische Regierung gern von ihrem Land gezeichnet hätte. Eine interessante Verwobenheit entsteht. Somit wird die scheinbar unreflektierte Sammlung von Artefakten zur aufschlussreichen Demaskierung.

Eine Katastrophe für die chinesische Regierung, für die Antonioni als Speerspitze der linken avantgardistischen Künstlerbewegung der richtige Mann für diesen Film gewesen zu sein schien – gerade auch nach der furiosen Schlusssequenz seines kurz vorher fertiggestellten „Zabriskie Point“ (1970), in dem eine kaum zu steigernde Materialismus-Kritik mitschwingt. Und obwohl Antonioni in seinem Film das politische System nie direkt angreift – und darüber hinaus oft seine latente Faszination für die Lebensweise der chinesischen Bevölkerung nicht verbergen kann -, wurde „Antonionis China“ vom maoistischen Regime als anti-chinesische Propaganda bezeichnet…

Was bei weitem nicht der Fall ist. Im Gegenteil: Antonionis Studien des chinesischen Alltags transportieren Erhabenheit und Stolz der Bevölkerung, und vermitteln dabei stets uneingeschränkte Bewunderung. Überhaupt ist die filmische Darstellung chinesischer Städte und Landschaften, trotz schwierigen Drehbedingungen und qualitativ minderwertigem 16-mm Filmmaterial -von dem Antonioni auf seiner Reise mehr als 300.000 Meter belichtete-,  jederzeit beeindruckend und von faszinierender Schönheit.

Und so zeichnet Antonioni mit seiner Dokumentation ein aufschlussreiches Zeit-Bild, das dennoch genügend Raum für Interpretation lässt und dabei bewusst propagandistisch-inszenierte Momente nicht vermeidet, um auf diese Weise eine fremde Epoche noch genauer zu beleuchten. Es entsteht eine sozio-kulturelle Zeitreise mit Beweischarakter, die durch die Vielzahl an scheinbar Nebensächlichem zu einem aussagekräftigen und einmaligen Dokument wird – wahrscheinlich der einzig überlieferte authentische filmische Nachweis des chinesischen Alltagslebens während der Kulturrevolution.

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Chung Kuo – Cina (ITA / 1972)

R: Antonioni / K: Tovoli / D: Barbato


2 Antworten to “Antonionis China”


  1. 20. Juni 2011 um 23:07

    Eine echte Ausgrabung, denn im Vergleich zu seinen klassischen Spielfilmen kann man diesen Film fast als vergessenes Werk bezeichnen. Hast Du die komplette Fassung von 220 Minuten gesehen?

    • 20. Juni 2011 um 23:24

      Ich besitze leider nur die zweieinhalb-stündige Fassung. Obwohl mich die lange Version sehr interessieren würde, gerade auch wegen der Aufteilung in drei Abschnitte; die ja in der kurzen Fassung völlig wegfällt…


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Unter den Blinden…

Kein Anspruch auf Vollständigkeit. Kein Anspruch auf Richtigkeit. Pure Subjektivität eines Einäugigen...

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