Posts Tagged ‘luis bunuel

22
Mai
11

Der Weg, der zum Himmel führt

In „Der Weg, der zum Himmel führt“ beschäftigt sich Luis Buñuel fast ausschließlich mit einer einfachen Busreise, die für den Protagonisten zu einer mühevollen Odyssee wird. Ähnlich wie später in „Der Würgeengel“ (1962) oder in „Die Illusion fährt mit der Straßenbahn“ (1954), lässt Buñuel eine Vielzahl an Charakteren auf beengtem Raum agieren und zeichnet auf diese Weise mit einfachen Mitteln ein karikiert-komprimiertes Gesellschaftsporträt. Im Verlauf der Handlung wird der Zuschauer so Zeuge von Aggression, Verzweiflung, Eifersucht, Sexualität, Hochzeit, Geburt, Beerdigung, Wahlkampf, Vergebung, Missgunst… Kurzum: Buñuels Busfahrt wird zu einem Sinnbild des Lebens…

Wie die Mehrzahl der in Mexiko entstandenen Filme Buñuels, besitzt auch „Der Weg, der zum Himmel führt“ eine relativ simple Geschichte, die mit geringem Budget und durchschnittlichen Schauspielern unaufgeregt aberzählt wird: In seiner Hochzeitsnacht erfährt der mittellose Bauernsohn Oliviero, dass seine Mutter im Sterben liegt. Unverrichteter Dinge begibt er sich zu ihr, denn seine durchtriebenen Brüder hoffen auf das Erbe. Die Mutter, die Oliviero den Großteil des Erbes zusprechen möchte, fordert ihn auf schnellstmöglich in die Stadt zu fahren um einen Notar zu holen, der die korrekte Verteilung des Erbes garantiert. Ein Rennen gegen die Zeit beginnt…

Schnell wird klar, dass Buñuel die dramatische Handlung lediglich als Aufhänger benutzt, um die mannigfaltigen Ereignisse während der Busreise zu motivieren. Auch deshalb wirkt „Der Weg, der zum Himmel führt“ im Grunde genommen wie eine lose Aneinanderreihung von überspitzt dargestellten, amüsanten Episoden, in denen ein exemplarischer Querschnitt der mexikanischen Gesellschaft alle erdenklichen Gefühlswelten durchlebt, um auf diese Weise zu einer fröhlichen Zweckgemeinschaft zusammenzuwachsen. Man lernt sich kennen, man arrangiert sich, man hilft sich, man liebt sich – in der vermeintlichen Nichtigkeit des Erzählten liegt dabei der eigentliche Charme des Films…

Einzig Oliviero kann die fröhliche Reise nicht genießen, denn für ihn wirken die vielen heiteren Nebensächlichkeiten der Busfahrt wie Prüfungen, die ihn davon abhalten sein Ziel zu erreichen. Nur durch ihn und seine Situation wird Dramatik aufgebaut, die jederzeit hintergründig durchschimmert. Es ist beeindruckend wie Buñuel es schafft, trotz der lustspielartigen Handlung, das drohende Ableben der Mutter immer präsent zu halten. So überschattet der Tod scheinbar allgegenwärtig das Geschehen; wodurch die Trennlinie zwischen Komödie und Tragödie immer mehr verwischt.

Weiterhin auffällig ist, dass Buñuel stets mit den Augen eines Europäers auf die mexikanischen Sitten und Gepflogenheiten zu blicken scheint. Ähnlich wie in seinem „Dokumentarfilm“ „Land ohne Brot“ (1933), wirkt die Herangehensweise des stolzen Spaniers dabei stets erhaben, aber auch auf sonderbare Weise überheblich. Dessen ungeachtet zeichnet Buñuel in seinem gesamten mexikanischen Oeuvre ein einzigartiges Zeitbild mexikanischer Lebensart und infiziert zudem fast spielerisch vermeintlich leichte Unterhaltungskost mit künstlerischem Anspruch.

Gerade „Der Weg, der zum Himmel führt“ ist diesbezüglich bezeichnend. Denn obwohl Buñuel, wie in den meisten seiner frühen mexikanischen Filme, stilistisch einen dokumentarischen Ansatz vertritt, offenbart sich der dezent-surreale Charakter seiner Erzählweise durch subtile, kaum wahrnehmbare, aber stete Nadelstiche – etwa durch besondere Bilder, merkwürdige Handlungsmotivationen oder überraschende Auflösungen. Im Gegensatz zu seinem Spätwerk, in dem er sich immer wieder mit krassen, surrealen Schock-Momenten von der Handlung entfernt und den Stilbruch förmlich herausbrüllt – Momente, in denen sich dann das wissend kichernde Bildungsbürger-Publikum im Kinosaal gegenseitig zunickt –, wirken Buñuels mexikanische Filme deshalb auf angenehme Weise zurückhaltend. Es ist, als liege lediglich ein surrealer Schleier über den Bildern.

Nichtsdestotrotz enthält „Der Weg, der zum Himmel führt“ auch offensichtlich Surreales. Diesbezüglich am auffälligsten ist sicherlich die Sequenz, in der der Held von der Verführerin Raquel träumt: Der Bus verwandelt sich in einen Dschungel; schnelle Szenenwechsel stiften Verwirrung; Äpfel, Schlangen und Monumente spielen eine Rolle – Buñuel in seinem Element. Dennoch wirkt dieses surreale Zwischenspiel sehr gut in die vermeintlich realistische Gesamthandlung integriert.

Und so schafft Buñuel mit „Der Weg, der zum Himmel führt“ einen unprätentiösen, liebenswert-optimistischen Film, in dem die Schwierigkeiten und Prüfungen des Lebens mit stoisch-fatalistischer Gelassenheit besiegt werden. Ein vollgepacktes aber jederzeit unaufgeregtes Sammelsurium von Banalitäten, das scheinbar alle Aspekte des Lebens berührt. Oder anders: Ein sympathisch-belangloses Geschichtchen mit universeller Substanz…

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Subida al cielo (MEX / 1952)

R: Buñuel / K: Phillips / D: Altolaguirre

08
Mai
11

Vampyr – Der Traum des Allan Grey

Fernab von Filmindustrie und Studioproduktion schuf der avantgardistische Filmemacher Carl Theodor Dreyer mit „Vampyr – Der Traum des Allan Grey“, einen experimentellen Horrorfilm, der der Logik eines Traums folgt und auf unkonventionelle Weise Themen wie Bewusstseinserweiterung, Halluzination und Todeserfahrung behandelt. Mit geringem Budget ausschließlich an Originalschauplätzen gedreht, erreicht Dreyer, auch durch teilweise extreme Stilisierung, eine erhabene irreal-illusionistische Atmosphäre.

Wie der Held aus einem Keaton-Film, betritt der naiv wirkende Beau, Allan Grey, scheinbar aus dem Nichts, eine Welt die er nicht versteht. Er kehrt in einen Gasthof ein und trifft dort auf seltsame Gestalten und Erscheinungen. Ein Buch über Vampirismus scheint Erklärungen für die verwirrenden Ereignisse zu geben. Grey stellt weitere Nachforschungen an und findet heraus warum die junge Tochter des Barons darbend auf den Tod wartet. Erst wenn er die Quelle des Unheils zerstört, kann die junge Frau gerettet werden. In einem Traum erkennt Grey die Lösung des Problems…

So simpel wie die in kurzen Sätzen rekapitulierte Handlung hier wirkt, ist sie in „Vampyr“ bei weitem nicht. Dies liegt vor allem an der extrem sprunghaften und unsteten Erzählweise, die vermeintlich keiner Logik folgt. Dreyer führt schlafwandlerisch durch seinen Film und erschafft dadurch -ähnlich wie Buñuel/Dalí mit „Ein andalusischer Hund“- die surreal-improvisierte Aura eines Traums. Im Gegensatz zur lockeren, scheinbar zufälligen Aneinanderreihung von Ereignissen in „Ein andalusischer Hund“, wirkt die umständliche Erzählstruktur von „Vampyr“ dabei jedoch eher sperrig und inkonsequent.

Auf visueller Ebene besticht „Vampyr“ dagegen durch unkonventionell-experimentelle Kameraführung und ausgefeilten Bildaufbau. Die oft verwinkelten Perspektiven, die gewagten (teilweise bis zu 360°-)Schwenks und die technisch einwandfreien Verfolgungen tragen dazu bei, die Gegenwärtigkeit eines jeden Augenblicks –fernab von Bewusstseins- und Handlungslogik- nochmals zu betonen. So entsteht ein atmosphärisch dichtes, traumähnliches Gebilde, das durch den zusätzlichen Verzicht auf plausible Erklärungen der Ereignisse noch an Mystik gewinnt. Ob es sich bei den geschilderten Vorkommnissen wirklich um Fälle von Vampirismus handelt, oder ob sich Grey alles erträumt, lässt Dreyer völlig offen. Lediglich der Ansatz einer Lösung ist erkennbar.

Anders als in den etwa zur gleichen Zeit entstandenen Universal Horror-Ikonen „Dracula“ (1931), „Frankenstein“ (1931), „Die Mumie“ (1932), „Der Unsichtbare“ (1933) o.a. ist für Dreyer -neben der Plausibilität der Handlung- auch die Faszination des Schreckens nicht im Geringsten relevant. So vermeidet er in „Vampyr“ explizit jegliche Ausstellung des Grauens – kein Akt der Gewalt, keine kreischenden Frauen, keine Schockelemente… Was Dreyer dem Zuschauer bietet ist reiner psychologischer Horror.

Eine diesbezüglich beeindruckende Sequenz, ist die, in der der träumende Grey seine eigene Beerdigung miterlebt: Mit weit aufgerissenen Augen blickt er durch ein kleines Fenster aus seinem Sarg. Aus Greys Perspektive, der Perspektive eines Toten, erleben wir den Weg zum Friedhof – Bäume, Häuser und das Kirchengebäude ziehen unaufhaltsam vorüber. Eine beängstigende klaustrophobisch-verzweifelte Spannung baut sich auf – der Albtraum des eigenen Todes.

Dabei gilt zu beachten, dass Dreyer stets eine Identifikation mit seiner Hauptfigur vermeidet. Zwar sieht der Zuschauer die Ereignisse des Films faktisch mit den Augen Greys, doch scheint ständig eine nebulöse Trennscheibe zwischen Kamera und Protagonisten zu liegen. Eine merkwürdige Distanz ist spürbar. Oft wirkt es als löse sich Grey förmlich in den impressionistischen Landschaften auf. Meist ist es eine Überraschung, dass er überhaupt wieder auftaucht…

Trotz der vielen subtilen psychologisch-psychoanalytischen Ansätze, verfällt Dreyer auch immer wieder auf einfache filmische Taschenspielertricks, die an frühe Filme der Lumières und Méliès erinnern; so wenn Schatten scheinbar eigenständig über die Wand gleiten, oder rückwärtsabgespielte Aufnahmen Verwunderung erregen sollen. An diesen Stellen wirkt „Vampyr“ oft unfreiwillig komisch. Auch die miserable Tonqualität des Films, mit teilweise kaum zu verstehenden, sich überspitzt artikulierenden (Laien-)Darstellern und dem unbeholfenen Einsatz von Musik und Geräuschen, verweist immer wieder auf das geringe Budgets des Films; aber auch auf die zeitliche und stilistische Nähe zum Stummfilm. Hinzu kommt, dass „Vampyr“, ähnlich wie „Nosferatu“ (1922) oder „Das Cabinett des Dr. Caligari“ (1920), seine Plot-inhärente Glaubwürdigkeit aus einem Buch generiert. Die Folge: ungewöhnlich lange Textpassagen, die den Fluss der Handlung abermals unterbrechen… Dennoch verstärken letztlich auch diese vermeintlichen Unzulänglichkeiten die oben erwähnte, bewusste Distanzierung, um dem Zuschauer das unbestimmte Gefühl eines Traums zu vermitteln.

Dies alles macht „Vampyr“ –stets mehr Traum als Film- zu einem außergewöhnlichen Vorreiter auf dem Gebiet des psychologischen Horrors. Auf unvergleichliche Weise entsteht durch improvisierte Perfektion ein bildgewaltiger, surreal-verstörender Film, der die Begrenztheit des Verstandes ausklammert, um unbewussten Schrecken zu erzeugen. Ein in jeder Hinsicht bewundernswertes Kleinod der Filmgeschichte.

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Vampyr – Der Traum des Allan Grey (D / F / 1932)

R: Dreyer / K: Maté / D: Dreyer (nach Le Fanu)

10
Feb
11

Film___Buch

Film-Literatur: Ein weites Feld – von lediglich an der Oberfläche kratzenden Bilderbüchern bis hin zu bleilastigen, von Subtexten zu Metaebenen changierenden Theoriebibeln, findet sich so ziemlich alles in den Bücherregalen der Filmliebhaber. Leider steht gerade bei den anspruchsvollen filmtheoretisch-wissenschaftlichen Betrachtungen oft nicht mehr das Medium Film im Mittelpunkt, sondern eher der jeweilige Ansatz des einzelnen Autors. Das Ergebnis: Frustration wegen der schwer deut- und lesbaren Interpretationsversuche und die stetige Entfernung vom Wesentlichen, dem Film.

Deshalb seien an dieser Stelle ein paar uneingeschränkte Film-Literatur-Empfehlungen genannt, die relativ leicht zugänglich sind und dabei dennoch ungemein aufschlussreich und spannend bleiben. Filmbücher von Autoren, die mit spürbarer Leidenschaft, ihrer Liebe zum Medium Film Ausdruck verleihen und auf faszinierende Weise Wissen und Emotionen vermitteln.

 

„Yo – Ich selbst“ (1984) – Sergej M. Eisenstein

Eisenteins Memoiren, bestehend aus von ihm selbst zusammengestellten, über die Jahrzehnte angehäuften Gedanken, Arbeitsthesen, Skizzen und Entwürfen. Manche Texte wirken unfertig, andere hingegen weisen eine unglaubliche Perfektion auf. Man meint die Arbeitsprozesse und Denkstrukturen des Universalgenies überblicken zu können. Trotz des  fragmentarischen Aufbaus ungemein spannend und stringent.

 

 

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„Film als subversive Kunst: Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubrick“ (Film as  Subsersive Art / 1974) – Amos Vogel

Ein Sammelsurium an interessanten, provozierenden, experimentellen Filmen aus allen Teilen der Welt. Zwar schreibt Vogel zu den einzelnen Filmen oft nicht mehr als eine kurze, aus dem Gedächtnis zitierte Inhaltsangabe, die meist nicht sonderlich präzise und manchmal faktisch einfach falsch ist. Doch gibt das Buch dennoch einen exzellenten Überblick über die Experimental- und Kunstfilmszene von den Anfängen des Kinos bis in die 1970er Jahre. Aufgrund der hohen Dichte der besprochenen Filme auch als Nachschlagewerk zu verwenden.

 

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„Film als Kunst“ (1932) – Rudolf Arnheim

Was ist Film? Was zeichnet ihn aus? Was grenzt ihn von anderen Kunstformen ab? Was macht ihn einzigartig? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Arnheim in „Film als Kunst“. Sein feuilletonistischer Stil, besticht durch Pointiertheit und stark subjektive Färbung. Zwar sind einige Ansichten heutzutage kaum noch haltbar – auch distanzierte sich Arnheim selbst von einigen Thesen; doch macht gerade dies, die Magie dieses kompromisslosen Pamphlets aus.

 

 

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„Film verstehen“ (How to read a film / 1977) – James Monaco

Körnung des Filmmaterials, Physiognomie der Wahrnehmung, Mise en Scène und Malteserkreuz… In diesem Buch werden Details zum Thema Film erklärt. In verschiedenen Kapiteln gibt Monaco einen umfassenden Überblick über Filmtechnik, -sprache, -geschichte, -theorie usf. Sowohl für Film-Laien als auch für Experten absolut lesenswert und als eine Art ständiges Nachschlagewerk jederzeit zu empfehlen.

 

 

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„Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ (Le Cinéma selon Hitchcock / 1966) – François Truffaut

In einem lange vorbereiteten Interview steht Alfred Hitchcock, seinem Bewunderer Truffaut Rede und Antwort. Häufig merkt man Truffaut seinen Respekt vor Hitchcock förmlich an; an anderen Stellen des Buches wirkt das Interview eher wie ein Gespräch zweier Filmenthusiasten auf Augenhöhe. Definitiv eine sehr schöne Übersicht über Hitchcocks Werk, wenn auch nicht immer sonderlich tiefgreifend. Dafür jedoch unglaublich interessant und absolut lesenswert. Ein Klassiker.

 

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„Mein letzter Seufzer“ (Mon dernier soupier / 1982) – Luis Buñuel

„Man besteht aus seinen Irrtümern und Zweifeln wie aus seinen Gewißheiten“. Ein Satz der sich als Leitmotiv durch die Autobiographie Buñuels zieht. Dieses Buch ist weniger durch filmtheoretische/filmographische Ansätze interessant; sondern beeindruckt eher durch die reflektierende Leichtigkeit eines Mannes, der die Film- und Kunstwelt jahrzehntelang aufgemischt hat. Ein augenzwinkernder Abgesang…

 

 

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„Groucho und ich“ (Groucho and me / 1959) – Groucho Marx

Eine intelligente und sprachlich wie immer extrem pointierte Auseinandersetzung mit dem, was Groucho sein Leben nennt. Stets humorvoll, meistens überraschend, oft melancholisch und immer lesenswert.

 

 

 

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„François Truffaut – Briefe 1945-1984“ (François Truffaut – Correspondance / 1988) – François Truffaut

Das Leben und das Werk Truffauts von einer ganz persönlichen Seite… Hier findet sich der gesamte Briefverkehr seines Lebens, zusammengefasst in einem Buch. Ideen, Besprechungen, Filmrezensionen, Notizen, Liebesangelegenheiten… Stets behände ausformuliert und interessant geschrieben. Der Leser gewinnt Einblicke in das Werk eines Filmenthusiasten; aus einer sehr privaten Perspektive.

 

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„Von Caligari zu Hitler: Eine psychologische Studie des deutschen Films“ (From Caligari to Hitler / 1947) – Siegfried Kracauer

Siegfried Kracauers Versuch einer soziologischen Studie, die den Weg in den Nationalsozialismus auf die deutsche Filmproduktion zwischen 1918 und 1933 zurückführt… Die wissenschaftlich und historisch gesehen kaum haltbare These durchzieht das gesamte Buch und wirkt dennoch auf erschreckende Weise überzeugend. Vor allem auf filmhistorischer Ebene beeindruckt Kracauers Buch und erweist sich, aufgrund der ungeheuren Zahl an detailliert besprochenen (heutzutage teilweise unbekannten, weil verschollenen) Filmen, als wahre Fundgrube.

 

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„Pioniere des Films“ (The parade’s gone by / 1997) – Kevin Brownlow

Kevin Brownlow interviewte in den 60er Jahren Regisseure und Filmschaffende, die Hollywood in den 10er und 20er Jahren zu dem machten was es heute ist. Ein ungemein liebevoll gestaltetes Werk mit jeder Menge Anekdotischem, von einstigen Stars – die heutzutage kaum noch bekannt sind. „The parades gone by“ blickt auf sentimentale und ausführliche Weise zurück und  beleuchtet wie kein anderes Buch die Produktionsverhältnisse der Stummfilmzeit…

25
Jan
11

10 Meisterwerke

Es gibt viele Listen mit Aufzählungen der wohl besten Filme aller Zeiten… hier ist meine… zehn Meisterwerke, die eine lebensverändernde Kraft besitzen und einmalig in der Geschichte des Films bleiben werden.

Fühlt euch frei zu intervenieren oder zu ergänzen – die Reihenfolge wurde übrigens dem Zufall überlassen…


Standbild aus "Wilde Erdbeeren"

Smultronstället – Wilde Erdbeeren (SWE / 1957)

Bergmans Abgesang auf ein Leben/eine Epoche. Eine unglaublich intensive Erfahrung mit surrealen Anklängen und dem großartigen Victor Sjöström in der Hauptrolle.

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Standbild aus "Die Vergessenen"

Los Olvidados – Die Vergessenen (MEX / 1950)

Melancholie und Trostlosigkeit. Gerade der Surrealist Bunuel schafft ein bewegendes Werk des harten Realismus. Nicht umsonst wurde „Die Vergessenen“ als zweiter Film nach „Metropolis“ (warum auch immer) in die Liste des Unesco Weltkulturerbes aufgenommen.

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Standbild aus "Die Reise nach Tokio"

Tokio monogatari – Die Reise nach Tokio (JAP / 1953)

Kleine Gesten große Wirkung. Ein stilles, bewegendes und tief emotionales Monument der Menschlichkeit.

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Standbild aus "Erde"

Zemlya – Erde (UdSSR / 1930)

In eindrucksvoll poetischen Bildern erzählt Dovshenko eine einfache Bauerngeschichte, die alle Elemente eines Lebens beinhaltet. Mehr Gedicht als Film.

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Standbild aus "In der Glut des Südens"

Days of heaven – In der Glut des Südens (USA / 1978)

Episch in jeder Hinsicht. Kameramann Néstor Almendros lässt aus jedem einzelnen Filmbild ein Gemälde entstehen. Ein atmosphärisch unerreicht dichtes, visuelles Meisterwerk.

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Buster Keaton, Der General

The General – Der General (USA / 1926)

Ein Film, mit der Schönheit, Kraft und Perfektion einer Dampfmaschine. Formal vollkommen.

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Standbild aus Vittorio De Sicas "Die Fahrraddiebe"

Ladri di biciclette – Fahrraddiebe (ITA / 1948)

Frage: Was braucht man für einen spannenden und emotional zutiefst aufwühlenden Film? Antwort: Zwei Schauspieler und ein Fahrrad… De Sicas „Fahrraddiebe“; eine Perle des Neo-Realismus.

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Peter Lorre in "M"

M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D.R. / 1931)

Ein schwieriges Thema spannend und unterhaltsam umgesetzt. Gerade auf der Tonebene setzte „M“ Maßstäbe und verliert auch mehr als 80 Jahre nach seiner Uraufführung nicht an Wirkung.

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Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg in Außer Atem

À bout de souffle – Außer Atem (FRA / 1960)

Eine filmische Supernova; die das Kino revolutioniert hat und zum Aushängeschild der Nouvelle Vague wurde. Es gibt ein Kino vor und nach „Außer Atem“.

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Standbild aus "Oktober"

Oktyabr – Oktober (UdSSR / 1928)

Projizierte Filmtheorie. „Oktober“ generiert durch Montage Bedeutung. Der Rhythmus des Films gleicht dem der Revolution. Ein filmisch-psychoanalytisches Gesamtkunstwerk.

20
Dez
10

L’âge d’or – Traumhaft skandalös

Lya Lys in "Das Goldene Zeitalter"

L’âge d’or ist der einzige Film meiner Karriere, den ich in einem Zustand der Euphorie, voll Enthusiasmus und Zerstörungsrausch drehte, in dem ich die Vertreter der Ordnung angreifen und ihre ewigen Prinzipien lächerlich machen wollte, mit diesem Film wollte ich absichtlich einen Skandal herbeiführen“ (Luis Buñuel).

Dieses Ziel erreichte Buñuel. „Das goldene Zeitalter“ kam, wie „Ein andalusischer Hund“ im Pariser Studio 28 heraus, lief sechs Tagen vor ausverkauften Haus und musste dann nach Protesten der konservativen Presse und Überfällen von radikalen, rechtsgerichteten Gruppierungen abgesetzt werden. Zur Wahrung der öffentlichen Ordnung verbot der Pariser Polizeipräfekt den Film völlig. Dieses Verbot blieb 50 Jahre in Kraft; erst 1980 wurde der Film in New York wiederaufgeführt, 1981 in Paris.

Das war der Skandal den sich Buñuel so sehnlich gewünscht hatte…

1. Technisches

Gedreht wurde „Das goldene Zeitalter“ hauptsächlich in den Ateliers von Billancourt, die Außenaufnahmen entstanden in der tristen Felsenlandschaft Kataloniens (in der Nähe von Cadaqués) und bei Paris. Diverse Künstler hatten kleine Gastauftritte, was den starken Zusammenhalt der surrealistischen Gruppe zu dieser Zeit verdeutlicht. So spielt Max Ernst den Räuberhauptmann, Pierre Prevent den kranken Räuber und Valentine Hugo ist in der Salonsequenz zu sehen…

„Das Goldene Zeitalter“ besitzt – für einen Avantgarde-Film nicht selbstverständlich – einen erstaunlich hohen technischen Standard. Neben einigen anspruchsvollen Kamerafahrten (wie etwa die Verfolgung des (leeren) Kleides, durch den Flur der Residenz), beeindruckt vor allem der Einsatz des Tons – gerade in dieser Umbruchzeit zwischen Stumm- und Tonfilm.

Bei „L’age d’or“ handelt es sich um einen der ersten französischen Tonfilme überhaupt. Und trotzdem man damals dem Medium Tonfilm eher unbeholfen gegenüberstand, setzte Buñuel die neuen Möglichkeiten sehr geschickt ein (bspw.: der Schrei aus dem Off bei der Grundsteinlegung, oder diverse pointierte musikalische Einschübe).

2. Handlung

„Das goldene Zeitalter“ ist sprunghaft-episodisch aufgebaut. Der Film beginnt mit einem kurzen Dokumentarfilm über Skorpione. Anschließend steht eine Räuberbande, die in einer unwirtlichen Felslandschaft ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat, im Mittelpunkt des Geschehens. Die Verbindung von Skorpion- zur Räubersequenz ist, wenn überhaupt, einzig über die karge, felsige Umgebung herzustellen. Ein Räuber entdeckt schließlich auf einer kleinen Insel einige kirchliche Würdenträger; woraufhin die gesamte Räuberbande zu dieser Stelle aufbricht, an der dann jedoch nur noch die Gerippe der Kirchenmänner und ihr prunkvolles Ornat zu sehen sind.

Die Handlung springt erneut. Diesmal dreht sich alles um eine festliche Grundsteinlegung mitten in der tristen, Felsenlandschaft. Eine große Menschengruppe – ein Querschnitt durch die Gesellschaft – pilgert zu der Stelle, an der die ewige Stadt Rom gegründet werden soll (!). Die Begrüßungsrede des Vorsitzenden wird aber jäh durch einen Schrei unterbrochen, der die Aufmerksamkeit auf ein sich liebkosendes Paar (gespielt von Gaston Modot und Lya Lys) lenkt, das sich wollüstig im Schlamm wälzt. Aufgebracht stürmen die Leute heran um die Liebenden zu trennen und die ihnen vertraute (Gesellschafts-) Ordnung wieder herzustellen. Von da an bildet das gewaltsame Trennen des Liebespaares den roten Faden im Film. Immer wieder wird das sich vereinende Paar durch die etablierten Ordnungsmächte (Kirche, Militär, Familie, Moral) gewaltsam am Vollzug ihrer Liebe gehindert. Auch zum Ende des Films verhindern höhere, nicht erkennbare Mächte das Zusammenkommen der beiden Protagonisten.

Den Schlusspunkt des Films bildet schließlich ein kurzer Epilog, in dem die Überlebenden einer 120 Tage lang andauernden Orgie auf Schloss Selligny gezeigt werden. Anführer und letztlich einzig Überlebender ist Jesus Christus…

3. Erzählweise

Trotz dieser Sprunghaften, unkonventionellen Erzählstruktur, mit teilweise sehr diffusen, die Handlung unterbrechenden Schrift-Inserts (bspw.: „einige Stunden später“ oder „Manchmal an Sonntagen“), schafft es Buñuel doch auf poetische, suggestive und gefühlvolle Weise Verbindungen zwischen den Sequenzen herzustellen, um die oberflächlich recht brutal wirkende Episodenhaftigkeit abzumildern und in einen Fluss zu bringen, der der Filmhandlung letztlich eben doch ihre Einheit gibt. So z.B. die Verbindung zweier völlig unterschiedlicher, aufeinander folgender Sequenzen einzig durch die Felsenlandschaft oder die Verknüpfung unterschiedlicher Zeiten und Orte durch einzelne Personen usf.

Diese Vorgehensweise erinnert stark an die Charakteristik eines Traums, in dem ebenfalls ganz marginale Nebensächlichkeiten zum Hauptsächlichen, zum Mittelpunkt werden können. Buñuel schafft es dem Film diese Freiheit des Traums zu geben. Ihm ist das etablierte, lehrbuchmäßige Erzählen einer Handlung nicht wichtig, sondern er verknüpft über ganz unterschiedliche, manchmal winzig kleine, kaum zu entdeckende Nahtpunkte ganze Welten.

4. Wirkung

„Das goldene Zeitalter“ wirkte aus verschiedenen Gründen so stark auf das zeitgenössische Publikum. Zum einen beinhaltet der Film eine ganze Flut an, für die damalige Zeit, sehr gewagten Aufnahmen. Zum anderen bricht Buñuel zahlreiche gesellschaftliche Tabus, wie etwa: Jesus Christus als treibende Kraft einer 120 Tage währenden Orgie, öffentlich zur Schau gestellte Wollust des Liebespaares, Fußtritte gegen einen Blinden und (für Viele noch schockierender) gegen einen kleinen Hund usf.

Darüber hinaus verletzt er auch diverse Bildtabus. So gibt es viele, fetischisierende, erotische Einstellungen, wie etwa das lustvolle Lutschen der Protagonistin an einer verkrüppelten Hand, oder an dem Zeh einer Statue. Weitere Bildtabus sind etwa das Erschießen eines kleinen Kindes durch den eigenen Vater und nicht zuletzt das benutzen einer Toilettenspülung; was es vorher wohl noch nie (und nachher lange Zeit nicht mehr) im Kino zu sehen gab.

Kurzum das zeitgenössische bürgerliche Publikum war schockiert.

5. Gesellschaftskritik

Vergleicht man die beiden zeitlich nah beieinander liegenden Filme „Ein andalusischer Hund“ (1928) und „Das goldene Zeitalter“ (1930) so ist auf den ersten Blick festzustellen, dass das soziale Engagement in „Das goldene Zeitalter“ viel stärker in den Vordergrund tritt. Die eher spielerischen Momente aus „Ein andalusischer Hund“, die wohl hauptsächlich Salvador Dali zuzuschreiben sind, verschwinden fast gänzlich. Ist „Ein andalusischer Hund“ noch die Tragödie der Begierde eines Individuums; so geht es im „Goldenen Zeitalter“ um den Widerstreit und die Unvereinbarkeit zwischen den Forderungen der Liebe und denen des gesellschaftlichen Lebens. Ob diese Haltung Buñuels nun als revolutionär oder gar umstürzlerisch zu bezeichnen ist, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass er den Skandal hauptsächlich als inszenatorisch-künstlerisches Mittel zum Selbstzweck suchte.

Nichtsdestotrotz ist „Das goldene Zeitalter“ ein radikaler Angriff auf die bestehende gesellschaftliche Ordnung. Der Film richtet sich unverhohlen gegen Religion, Vaterland, Bourgeoisie, Keuschheit, sexuelle Unterdrückung und Familie. All dies wird dem Spott preisgegeben; einzig annehmbar ist „die wilde, anarchistische, irrationale Liebe“, die „den verknöcherten Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft“ als alleiniger Lösungsansatz entgegengestellt wird (Vgl.: Vogel).

Und so bezeichnet Buñuel „Das goldene Zeitalter“ auch als verzweifelten Aufstand der Liebe. Sehnsucht und Begierde verbinden sich mit der maßlosen und verzweifelten Anklage gegen die bestehende Gesellschaftsordnung…

(-April 2006-)

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L’âge d’or (F / 1930)

R: Buñuel / K: Duverger / D: Buñuel




Unter den Blinden…

Kein Anspruch auf Vollständigkeit. Kein Anspruch auf Richtigkeit. Pure Subjektivität eines Einäugigen...

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